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Dagens Nyheter am 09 Mai 2001


Olof Petersson sieht die Verfassung auf dem Scheideweg:

„Wir brauchen ein ganz neues Grundgesetz"

Die bald dreißig Jahre alte Regierungsform erfüllt nicht die Anforderungen, die an ein solches Dokument in konstitutionellen Demokratien berechtigterweise gestellt werden. Seit seiner Entstehung sind ganze 45% seiner Artikel geändert worden. Solche Detailreformen beseitigen nicht die grundsätzlicheren Probleme der schwedischen Verfassung. Ein neues, einheitliches und systematisches Grundgesetz mit normierendem Charakter, das präziser und kürzer als das gegenwärtige gefasst sei, fordert in dem folgenden Artikel der bekannte schwedische Politikwissenschaftler Olof Petersson. Auch die EU braucht einen neuen Grundvertrag an Stelle der schwer überschaubaren Ansammlung an Verträgen, Direktiven und Verordnungen, die wir hier als Gemeinschaftsrechtsordnung kennen.


Die Zusammenarbeit der EU-Organe wird heute von einem Wirrwarr an Verträgen, Protokollen und Erklärungen geregelt. Der Versuch, ein leicht verständliches und umfassendes Regelwerk zu schaffen, ist bisher missglückt. Ein beträchtliches juristisches Fachwissen ist notwendig, um die schwer zugängliche Paragraphenmasse auszulegen oder auch nur zu verstehen.

Damit verfehlt die EU eines der Hauptkriterien für ein demokratisches Gemeinwesen, nämlich dass seine gesetzliche Grundlage für die Mitglieder verständlich ist. Aber es gibt die Erwartung, dass die EU auf demokratischer Legitimität beruhen soll. Der einzelne Mitbürger soll die Regeln, die die Union und ihre gemeinschaftliche Politik steuern, verstehen und mitbestimmen können.

In der Praxis hat die EU schon eine Verfassung. Die Summe aller Vertragsbestimmungen und die Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH bilden ein System von Rechtsbestimmungen, die große Ähnlichkeiten mit der Verfassung eines Staates aufweisen. Problematisch ist allerdings, dass diese de-facto-Verfassung nicht als explizites und einheitliches Verfassungsdokument existiert.

Ein weiteres Problem ist die Unvollständigkeit des Regelwerks, das die gesetzlichen Grundlagen der Europäischen Union festlegt. Bedeutende Aspekte ihrer Arbeit sind noch immer ungeregelt; hier sind zum Beispiel die Arbeitsteilung zwischen EU und Mitgliedsländern sowie die nähere Kompetenzverteilung zwischen den Institutionen der EU zu nennen.

Die EU braucht eine Verfassung, die als Grundvertrag eine Hierarchie rechtlicher Bestimmungen begründet und das bestehende Regelungswirrwarr ersetzt. Dieser Grundvertrag sollte die Rechte der Bürgerinnen und Bürger festlegen. Der Grundrechtekatalog, der im Jahr 2000 in Nizza beschlossen wurde, würde hier zu seinem vollen Recht kommen. Ein anderer wichtiger Teil ist die Regelung der Gemeinschaftsaufgaben und der Kompetenzen der Mitgliedstaaten. Nicht zuletzt sollte der Vertrag auch die Aufgaben der verschiedenen Organe regeln.

Die Zusammenarbeit in der EU sollte Gemeinschaft und Flexibilität ermöglichen. Wie im letzten Bericht des Wirtschaftsrates von SNS (Studieförbundet Näringsliv och Samhälle, Studienverbund Wirtschaft und Gesellschaft) vorgeschlagen, sollten die für alle Mitgliedstaaten obligatorischen politischen Maßnahmen auf einer gemeinsamen Grundlage mit einem kräftigen Anteil an suprastaatlicher Beschlussfassung beruhen. Außerdem kann die EU auch freiwillige Zusammenarbeit zwischen Gruppen von Mitgliedsländern auf bestimmten politischen Gebieten erlauben, so genannte offene Partnerschaften. Dadurch soll der Anforderung einer stabilen Zusammenarbeit in den Kerngebieten der EU Rechnung getragen werden, ohne dadurch in anderen Bereichen Initiativen zu verhindern.

Dieser Vorschlag unterscheidet sich von anderen Ideen einer flexiblen Integration, die in der Regel davon ausgehen, dass eine kleinen Gruppe von Kernländern die Führung der EU übernehmen solle, wodurch diese die anderen Mitgliedsländer hinter sich lassen würden. Das Konzept der offenen Partnerschaft dagegen geht davon aus, dass die zentralen Ziele der Europäischen Gemeinschaft auf gemeinsamer Grundlage stehen, von allen Mitgliedstaaten geteilt werden sollten.

Um den Abstand zwischen Bürgerinnen und Bürgern und den Entscheidungsträgern zu vermindern, sollte das Parlament mehr zu sagen haben. Das Mitbestimmungsrecht des Parlaments (mit dem Ministerrat) muss daher auf mehr Bereiche im Rahmen des Grundvertrages ausgeweitet werden. Ein gemeinsames Wahlsystem muss für alle EU-Länder geschaffen werden, sodass die Proportionalität auf EU-Niveau die Entstehung europäischer Parteien ermöglicht. Dadurch soll ein Zweikammersystem mit dem Ministerrat als Senat und dem bestehenden EU-Parlament als Repräsentantenhaus ermöglicht werden.

Die EU braucht eine schärfere Abgrenzung von Regierung und Verwaltung. Die Rolle der Kommission sollte daher auf politisch verantwortliche Steuerung begrenzt werden. Entweder sollte das Parlament einzelne Kommissare durch eine Misstrauenserklärung (Parlamentarismus) absetzen können oder aber das Volk den Kommissionsvorsitzenden wählen (Präsidentialismus). Dadurch würde das Demokratiedefizit minimiert und klare Mechanismen würden die politische Verantwortlichkeit regeln.

Das Öffentlichkeitsprinzip (Öffentlichkeit der Verwaltungsakten) muss in der ganzen Union voll verwirklicht werden. Aus demokratietheoretischer Sicht ist es bedenklich, dass das höchste gesetzgebende Organ der EU unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt. Die nicht öffentlichen Ratssitzungen sollten durch öffentliche Senatssitzungen ersetzt werden.

Die interne Kontrolle der EU-Organe muss verbessert werden. Das EU-Parlament muss eine größere Verantwortung für die politische Kontrolle der Arbeit der EU bekommen. Das bedeutet eine beträchtliche Erhöhung der Ressourcen für Untersuchungsausschüsse etc. Die Sanktionsmechanismen des Europäischen Rechnungshofes müssen gestärkt werden.

Die Debatte über die verfassungsmäßige Zukunft der EU führt letztlich zur Frage nach ihrer Legitimität. Aus demokratietheoretischer Sicht müssen Europas Bürgerinnen und Bürger zuallererst die verfassunggebende Macht erhalten. Eine Volksabstimmung über einen neuen Grundvertrag könnte am gleichen Tag wie die Wahlen zum Europaparlament erfolgen, nach dem Prinzip, ein Bürger/ eine Bürgerin, eine Stimme in der Union, vielleicht sogar in den Ländern, die zurzeit um den Beitritt kandidieren. Es sollten in jedem Fall nicht einzelne Länder sein, die die Verfassung beschließen, ohne die Mehrheit der europäischen Bürger hinter sich zu wissen.

Die beginnende Debatte über eine EU-Verfassung lenkt die Aufmerksamkeit auf unsere eigenen konstitutionellen Traditionen. Die Regierungsform, die vor fast dreißig Jahren eingeführt wurde, erfüllt wohl kaum die Anforderungen, die an eine konstitutionelle Demokratie gestellt werden.

Unter einer Verfassung versteht man eine Ansammlung von rechtlichen Bestimmungen, die festlegen, wie ein politisches Gemeinwesen gesteuert werden soll. Es gibt zwei prinzipiell zu unterscheidende Typen von Verfassungen: normierende und beschreibende.

Eine normierende Verfassung beantwortet die Frage, wie die staatliche Ordnung sein soll. Eine solche Verfassung enthält und bestimmt die grundlegenden Prinzipen der Verfassungswirklichkeit, des politischen Systems. Eine normierende Verfassung befindet sich an der Spitze einer Hierarchie von Rechtsnormen, eines Rechtssystems. Die normierende Verfassung ist aller Gesetzgebung übergeordnet und damit für den Gesetzgeber bindend.

Eine deskriptive Verfassung beantwortet die Frage danach, wie staatliche Ordnung ist. Eine solche Verfassung ist also gleichbedeutend mit der Verfassungswirklichkeit, mit dem Politischen System. Die Verfassung nimmt daher oft die Form einer detaillierten Zeichnung an, einer Sammlung von praktischen Ratschlägen und Programmsätzen, die für den Gesetzgeber kaum bindend sind. Die Unterschiede zwischen Verfassung und den übrigen Gesetzen sind daher gering.

Natürlich enthalten auch die Schwedischen Grundgesetze einige grundlegende Rechte Prinzipien, aber sie werden oft mit Ausnahmen, Einschränkungen und Anwendungen versehen. Die schwedische Verfassung kann im großen und ganzen als eine deskriptive charakterisiert werden.

Im Vergleich zu anderen Verfassungen ist die schwedische Verfassung sehr ausführlich und detailliert. Vor allem die Tatsache, dass sie sich aus vier Gesetzen mit Verfassungsstatus zusammensetzt, erhöht den Umfang unserer Verfassung. Die Finnen haben im letzten Jahr eine ähnliche Verfassungssammlung durch ein einheitliches Grundgesetz ersetzt.

Das zweite Kapitel der Regierungsform enthält einen Katalog über Freiheiten und Rechte. Die Erscheinung dieser Rechte unterscheidet sich von derjenigen in normierenden Verfassungen, die sich zumeist auf die Festlegung von Hauptprinzipien beschränkt. Die schwedische Regierungsform manifestiert nicht nur ein allgemeines Recht, sondern beschreibt auch noch, wie dieses durch andere Gesetze eingeschränkt werden kann. Dadurch verliert die Verfassung einen Teil ihrer normierende Kraft.

Das schwedische Grundgesetz hat selten die gesetzgeberische Freiheit des Reichstags beschränkt. Wenn in einem konkreten Fall festgestellt wird, dass ein Vorschlag im Konflikt mit den Grundgesetzen stehe, so ist die spontane Reaktion eher, die Verfassung zu ändern, als den Gesetzesvorschlag abzulehnen.

Es ist der Reichstag, der entscheidet, ob ein Gesetzesvorschlag gegen die Verfassung verstößt oder nicht. Die Äußerung des Rechtsrates (Lagrådet) ist weder obligatorisch noch bindend.

Formell gesehen ist es sehr einfach, die schwedischen Grundgesetze zu ändern; die politischen Parteien sind allerdings in der Regel auch sehr auf einen breiten verfassungspolitischen Konsens bedacht. Grundrechtsänderungen müssen laut Verfassung durch zwei gleichlautende Reichstagsbeschlüsse mit dazwischenliegenden Wahlen durchgesetzt werden. Die Beschlüsse brauchen nur eine einfache Mehrheit zu erreichen.

Die Erfahrung zeigt, dass die schwedischen Grundgesetze sehr oft geändert worden sind. Seit ihrer Entstehung waren 45% der Artikel der Regierungsform Gegenstand eines Änderungsbeschlusses.

Schweden hat eine Verfassung, die aus historischen Ursachen vor allem deskriptiver Art ist. Die schwedische Verfassungspolitik steht vor einer wichtigen strategischen Entscheidung. Brauchen wir eine Verfassung mit normierendem Charakter?

Es gibt drei Handlungsalternativen. Die erste ist die Beibehaltung des Status quo. Nichtentscheidung, die Unterlassung von Veränderungen, ist auch eine Entscheidung, die mit den selben Maßstäben wie eine aktive Entscheidung gemessen werden muss. Die Entscheidung für eine Veränderung kann zweierlei Wege gehen: Der erste ist eine partielle Reform im Rahmen der bestehenden Verfassung. Es würde sich wahrscheinlich bald zeigen, dass dieser Weg zu so großen Änderungen führen würde, dass die Systematik und Überschaubarkeit verloren gehen würde, denn eine normierende Verfassung verlangt überall deutlichere und präzisere Formulierungen. Damit bleibt die umfassende Änderung, die in ein neues Grundgesetz mündet.

Ein neues Grundgesetz sollte explizite Verfassungsprinzipien enthalten. Das erste Kapitel der Regierungsform enthält auch jetzt schon gewisse Zielbestimmungen. Einige von diesen könnten einfach präzisiert werden; ein Beispiel hierfür ist das Rechtsstaatsprinzip und das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung. Andere Prinzipien müssten erst hinzukommen. Ein Beispiel wäre das Machtverteilungs- bzw. Gewaltenteilungsprinzip. Das Verhältnis des Staates zur internationalen Zusammenarbeit sollte in diesem Zusammenhang auch geklärt werden.

Der gegenwärtige Grundrechtekatalog im zweiten Kapitel der Regierungsform enthält sowohl Prinzipien wie Ausnahmen und Beschränkungen. Eine Konzentration auf die Prinzipien selbst würde bedeuten, dass das Grundgesetz nur den grundlegenden Inhalt der Rechte festlegt.

Wenn die Verfassung normierend sein soll, muss es institutionalisierte Verfahren und Sanktionen für die Umsetzung dieser Verfassung in Verfassungswirklichkeit geben. Hierfür gibt es mehrere denkbare Methoden, aber ein Verfassungsgericht wäre eine naheliegende Lösung. Das Normenkontrollrecht der Gerichte und Ämter muss präzisiert und gestärkt werden; das Erfordernis der Offensichtlichkeit für die Zulassung eines Normenkontrollverfahrens müsste beispielsweise abgeschafft werden. Die Stellung des Rechtswesens verdient ein eigenes Kapitel in diesem Grundgesetz.

Eine Revision der Grundgesetze muss nicht zuletzt zum Ziel haben, die große Menge an Detailregelungen auszusondern und in den Korpus der allgemeinen Gesetze einzugliedern.

Ein kurzgefasstes Grundgesetz müsste durch detailliertere Bestimmungen vervollständigt werden. Eine Möglichkeit wäre, eine Anzahl öffentlich-rechtlicher Gesetze zu schaffen, die eine Zwischenstellung zwischen Grundgesetz und allgemeinen Gesetzen erhalten würden, in etwa wie die heutige Geschäftsordnung des Reichstages. Solche Gesetze sollten nur mit einer qualifizierten Mehrheit zu ändern sein.

Um deutlich zu zeigen, dass Verfassungsänderungen breite Bündnisse erfordern, könnte in Zukunft das bisherige Erfordernis, zwei gleichlautende Beschlüsse mit dazwischenliegenden Wahlen zu treffen mit dem einer qualifizierten, beispielsweise einer Zweidrittelmehrheit kombiniert werden.

Abgesehen von der praktischen Methode, die hier angewendet werden soll, ist die Aufgabe, robuste Institutionen für eine konstitutionelle Demokratie auf schwedischem und auf europäischem Niveau zu treffen. Deswegen sind die Erwartungen an den aus der Demokratiekommission heraus entwickelten Gesetzesvorschlag der Demokratie-, Verwaltungs- und Verbraucherministerin Britta Lejon so hoch.

 

Olof Petersson
http://www.sns.se/olof

Übersetzung: Ursula Degener