Handelsblatt 16-17.2.2001

Ratspräsidentschaft kann wichtige Impulse für Verfassungsdebatte in Europa geben

Schweden muss Reform der EU in Gang setzen

Olof Petersson

 

Genauso schwer, wie es war, in Nizza eine Übereinkunft zu erziehlen, genauso schwierig ist es, die Beschlüsse im Nachhinein zu legitimieren. Die europäischen Regierungschefs haben viel Zeit und Mühe aufbringen müssen, um einer skeptischen Umwelt zu erklären, dass Nizza ein Erfolg war. Natürlich gelang es den Staats- und Regierungschefs, sich zu guter Letzt über die neuen Stimmgewichtungen zu einigen, die eine Voraussetzung für den Osterweiterungprozess sind. Doch den Preis war sehr hoch. Entgegen allen Vorsätzen beinhaltet der Vertrag von Nizza nich ein enfacheres, sondern ein viel komplizierteres System, um Beschlüsse zu fassen.

Doch es is nich nur der Inhalt, sondern auch der eigentliche Beschlussprozess, der dazu geführt hat, dass Nizza enen faden Beigeschmack bekommen hat. Die Arbeitmethode der Regierungskonferenz zeigte sich von ihrer schlechtesten Seite. Die für die Zukunft Europas so entscheidenden Beschlüsse wurden während einiger weniger nächtlicher Verhandlingsstunden gefasst - vorangetrieben von nationalen Sonderintressen. Für die kleineren Mitgliedsländer waren es bittere Erfahrungen in Nizza. Zum ersten Mal erlebten die Unterhändler kleiner Staaten so etwas wie Großmachtarroganz.

Der Nizza-Vertrag beinhaltet auch ein offizielles Eingeständnis seiner eigenen Unzulänglichkeit. Die Staats- und Regierungschefs entschieden, eine neue Regierungskonferenz zur Reformierung der Union 2004 einzuberufen. Es wird jetzt an der schweidschen und der belgischen Ratspräsidentschaft liegen, diesen Prozess in Gang zu bringen.

Schweden hat damit eine große und schwierige Aufgabe bekommen. Auf dem Gipfel von Nizza wurde eine „tiefer gehende und breitere Diskussion über die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union" gefordert. Die schwedische Ratspräsidentschaft soll zu umfassenden Diskussionen mit allen Betroffenen ermuntern: Mit Vertretern der nationalen Parlamente und der Öffentlichkeit, mit politischen und wirtschaftlichen Gruppen, Universitäten und Vertretern gesellschaftlich relevanter Gruppen. Außerdem sollen die Länder, die eine EU-Mitgliedschaft beantragt haben, ebenfalls in den Prozess einbezogen werden.

Eine wichtige Aufgabe ist die deutlichere Machtaufteilung zwischen der EU und den Mitgliedsländern. In dem Auftrag von Nizza wird insbesondere eine genauere Abgrenzung der Befugnisse von Union und Mitgliedsstaaten verlangt. Ungelöst ist außerdem, welche Stellung die EU-Grundrechtecharta haben soll. Die schwedische Regierung darf außerdem ein Problem übernehmen, das weder in Amsterdam noch in Nizza gelöst werden konnte: die Vereinfachung des EU-Vertrages, so dass er eindeutiger und leichter zu verstehen ist.

Der Auftrag der Staats- und Regierungschefs betrifft zentrala Aspekte der repräsentative Demokratie. Unter anderem muss die Rolle der nationalen Parlamente innerhalb der europäischen Struktur überdacht werden.

Durch die Aufnahme dieser Fragen räumte man in Nizza den Bedarf ein, die demokratische Legitimation und Transparenz der Union und ihrer Institutionen zu Verbessern und zu überwachen. Das Ziel ist natürlich, die Union den Bürgern näher zu bringen.

Historische Gründe erklären Schwedens Schweigen bei der Frage der institutionellen Reformen. Regierungschef Göran Persson hat sich vollkommen der traditionellen Arbeitsmethode auf zwischenstaatlicher Basis verschrieben. Föderalismus ist in Schweden ein Schimpfwort. Innerhalb des Landes steht Föderalismus für die Bedrohung des homogenes Staates durch Dezentralisierung. Im Verhältnis zum Ausland befürchtet eine breite Mehrheit, dass das Land durch Föderalismus die Kontrolle über sein Wohlfahrtsmodell verliert.

Vor einigen Jahrzehnten wurde das schwedische Modell gepriesen - ein Modell, das aus dem Zusammenspiel von Intressengemeinschaften, Verhandlungen, Pragmatismus und Konsenswillen bestand. Das Bild dieses schwedischen Modells ist jedoch negativer geworden. Die pragmatische Arbeitsweise beinhaltet, dass über alles verhandelt werden kann. Sie steht in direktem Widerspruch zu einer auf deutlicher Teilung der Verantwortung basierenden konstitutionellen Führung. Man darf befürchten, dass die schwedische Regierung versuchen wird, dieses alte schwedische Modell auch auf die neue Europäische Union zu übertragen.

Doch die Forderung nach größerer Transparenz und die Verbesserten Möglichkeiten, Verantwortlichkeiten einzufordern, werden über kurz oder lang zu einer europäischen Verfassung führen. Mit den schwedischen Traditionen einer lokalen Selbstverwaltung, Bürgernähe, Gleichberechtigung und Öffentlichkeitsprinzip könnte die jetztige Ratspräsidentschaft wichtige Anregungen für eine europäische Debatte liefern.

Es gibt viele konkrete und intressante Ideen, die eine genauere Prüfung verdient haben. Die Dehaene-Gruppe zeige in ihrem Bericht 1999, wie das Regelsystem durch einen Grundlagenvertrag, der die für die Union fundamentalen Bestimmungen enthält, vereinfacht werden könnte. Damit würde auch der Weg für eine Prozedur zur Veränderung des Vertrages geöffnet werden. Dieser Gedanke ist später von Wissenschaftlern an der European University Institute in Florenz entwickelt worden.

Man braucht beispielsweise nich die Regel beizuhalten, dass alle Mitgliedsstaaten einstimmig allen noch so kleinen Vertragsänderungen zustimmen müssen. Natürlich ist es wichtig, dass jedes Mitgliedsland auch in Zukunft zu grundlegenden Veränderung im Regelwerk Nein sagen kann. Die Festlegung, wie viele Stimmen ein Land im Ministerrat haben sollte, zählt dazu. Doch bei vielen anderen Fragen führt Forderung nach Einstimmigkeit zu einer Blockade, vor allem in einer erweiterten Union mit bis zu 30 Mitgliedern. In der Praxis ist es heute unmöglich, die Regeln für die EU-Institutionen zu verändern. Das widerspricht eindeutig dem Demokratiprinzip. In einer repräsentativen Demokratie müssen die Wähler und die Gewählten die Macht, die sie anderen überlassen haben, kontrollieren und auch zurückfordern können.

Die Forscher in Florenz haben einen neuen Vorschlag gemacht, wie die EU-Institutionen reformiert werden können: Der Kommission erhält danach ein größeres Initiativrecht und das Europaparlament mehr Macht. Das EU-Gericht in Luxemburg könnte Änderungsvorschläge auf ihre rechtliche Durchführbarkeit überprüfen.

Die Kritik an Legitimationsmängeln des EU-Projekts ist besonders in Schweden auf offene Ohren gestoßen. Für die schwedische Ratspräsidentschaft gibt es deshalb besonders gute Gründe, eine aktive und offensive Demokratiepolitik für Europa zu initiieren.

Olof Petersson
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